Am 8. September 1988 erscheinen am frühen Nachmittag zwei Kriminalpolizisten auf Gundhardt Lässigs Arbeitsstelle in Saalfeld und fordern ihn auf, mitzukommen, „zur Klärung eines Sachverhalts“. Sie zwängen ihn auf den Rücksitz eines Wartburgs und fahren mit ihm aufs Volkspolizei-Kreisamt, wo sie Lässig in eine fensterlose Zelle stecken. Die Stahltür und das Eisengitter davor fallen ins Schloss, und fünf Minuten später dröhnt aus einem in die Wand eingelassenen Lautsprecher etwa 40 Minuten lang Marschmusik. „Eine Erklärung, weshalb ich dort eingesperrt wurde, erhielt ich nicht“, wird Lässig vier Tage später in einer Eingabe „An den Staatsratsvorsitzenden der DDR, Herrn Erich Honecker, Marx-Engels-Platz, 1020 Berlin“ schreiben, in der er das Verhalten als Verstoß gegen die Menschenrechte und die Verfassung der DDR anprangert. „Durch diese Aktion sollte ich wahrscheinlich psychologisch eingeschüchtert werden“, liest er vor. „Ich empfand es als eine unerträgliche Belästigung und einen groben Verstoß gegen die Würde und Freiheit meiner Person.“
Stefan Locke
Korrespondent für Sachsen und Thüringen mit Sitz in Dresden.
Gundhardt Lässig blickt von einem blauen Aktenordner auf und setzt die Brille ab. „Eine Antwort habe ich natürlich nie erhalten“, sagt er und blättert durch die Papiere. „Ein Zeitdokument der Geschichte einer Antragstellerfamilie“, steht in Großbuchstaben auf dem Deckblatt, darunter der Ausreiseantrag samt Begründung sowie dutzende Briefe. „Ich habe praktisch an alle geschrieben“, sagt Lässig. An Willi Stoph, den Vorsitzenden des Ministerrats, an Innenminister Friedrich Dickel, an den DDR-Generalstaatsanwalt, den Staatsrat, an die Abteilung Inneres des Rates des Kreises Saalfeld, an den Thüringer Landesbischof Werner Leich, an Rechtsanwalt Wolfgang Vogel und immer wieder an Erich Honecker, auch über den Fortgang der Ereignisse an jenem Septembertag.
Im Anschluss an die Musikbeschallung lieferten die Polizisten Lässig nach kurzer Fahrt in der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ab, wo ihn ein Mitarbeiter nach etwa 30 Minuten Warten erstmals ansprach. „Erst jetzt stellte es sich heraus, dass es sich um eine sogenannte Belehrung handelt“, notierte Lässig. „Diese Belehrung, ich empfand sie als Bedrohung, bezog sich in der Hauptsache auf die Teilnahme meiner Person und meiner ganzen Familie am ökumenischen Friedensgebet.“ Die Teilnehmer, fast alle Ausreiseantragsteller, hätten damit versucht, staatliche Stellen zu erpressen, und die Ordnung und Sicherheit der Stadt Saalfeld gefährdet, habe der Mitarbeiter erläutert. „Diese Feststellung konnte ich nicht bestätigen“, schrieb Lässig weiter. „Ich habe mich dagegen verwahrt, dass die Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen vorkriminalisiert wird.“ Er lehnte es ab, das Protokoll der „Belehrung“ zu unterzeichnen, weil ihm keine Kopie ausgehändigt wurde. Dann durfte er dennoch gehen.
„Ich habe provoziert“
Ähnliche Aktionen kannte Gundhardt Lässig, seit er mit seiner Familie knapp zwei Jahre zuvor die Ausreise beantragt hatte. Sie wussten, dass die Genehmigung dauern konnte, aber sie rechneten damit, binnen Jahresfrist „drüben“ zu sein. Weil es dazu nicht kam, schrieb Lässig Briefe. „Ich konnte nicht einfach rumsitzen“, erzählt er drei Jahrzehnte später in seinem Wohnzimmer in Herbstein, einer kleinen Gemeinde bei Fulda. An diesem Dienstag jährt sich der Mauerbau zum 58. Mal. Auf dem Tisch hat Lässig Unterlagen ausgebreitet, Akten, Urkunden, Bescheinigungen – Puzzleteile einer vergangenen Bürokratie. „Ich habe schon häufig Angst gehabt um ihn“, sagt Margitta Lässig. „Ich hab’s oft drauf angelegt, ich habe provoziert“, entgegnet er. „Aber sie haben mich nie weggesperrt.“ Wäre alles schneller gegangen, wenn er sich ruhig verhalten hätte? „Kann möglich sein“, sagt Gundhardt Lässig, „genauso gut aber auch nicht. Wer weiß das schon?“ Den Entschluss, ihre Heimat zu verlassen, hat sich die Familie nicht leichtgemacht. „Wir haben wirklich sehr lange mit uns gerungen“, sagt Gundhardt Lässig. Am Geld oder materiellen Dingen habe es nicht gelegen, beteuert er. „Wir hatten in der DDR alles.“