Gerhard Gnauck

Regierungskrise in Polen: Am Rande des Zerfalls?

von befla

Am Montag trat Polens Justizminister Zbigniew Ziobro vor die Kameras. Er beschwor die Verdienste der „Vereinigten Rechten“, jenes Dreierbündnisses, das seit 2015 die Regierung trägt. Es besteht aus Jaroslaw Kaczynskis Partei PiS und zwei Kleinparteien, dem von Ziobro geführten „Solidarischen Polen“ (SP) und der „Verständigung“. Ziobro wirkte nervös, aber selbstbewusst. Nur gegen Ende seines kurzen Auftritts wurde er plötzlich leiser, als er sagte, was jetzt nötig sei, um die Regierung fortbestehen zu lassen: „Dafür braucht man Zeit für Treffen, für lange Gespräche.“ Wenig später begann eine stundenlange Sitzung der PiS-Führung, nach deren Ende die Parteisprecherin kryptisch twitterte: „Es wurden Entscheidungen über entschiedene Lösungen getroffen.“

Gerhard Gnauck

Politischer Korrespondent für Polen, die Ukraine, Estland, Lettland und Litauen mit Sitz in Warschau.

Seit Wochen sind die Spannungen im polnischen Regierungslager gewachsen, das nach den Siegen in der Parlamentswahl im Herbst 2019 und der Präsidentenwahl im Juli eigentlich drei Jahre ungestörtes Regieren vor sich haben könnte. Aus Ziobros Lager wurden immer wieder Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und mit diesem verbundene Politiker attackiert. Es geht um Posten bei der angekündigten Kabinettsumbildung und um Weltanschauung. Ziobro und seine Leute werfen der PiS Lauheit im Kampf eine angebliche „LGBT-Ideologie“ vor, in der sie eine Gefahr für Polens Identität sehen.

Mehrheit in Gefahr?

Der Streit eskalierte in der Nacht zum Freitag, als „Solidarisches Polen“ gegen einen PiS-Gesetzentwurf über das Tierwohl stimmte. Zuvor hatte „Solidarisches Polen“ erzwungen, dass ein anderer Gesetzesentwurf ganz zurückgezogen wurde. Mit ihm wollte die PiS staatlichen Funktionsträgern Straffreiheit zusichert, sollten sie zwecks Bekämpfung der Pandemie „im gesellschaftlichen Interesse“ rechtswidrig gehandelt haben. Das könnte zum Beispiel regelwidrige Einkäufe von Coronavirus-Schutzmitteln und betreffen.

Es ist erst das zweite Mal seit 2015, dass eine von Kaczynskis Partnerparteien aus der Disziplin des Regierungslagers ausschert; aus diesem Grund sind sie in der Öffentlichkeit lange nicht als eigenständig betrachtet worden. Im Mai hat die „Verständigung“ das Bündnis an den Rand des Zerfalls gebracht, als es eine Verschiebung der Präsidentenwahl erzwang, deren Abhaltung in der Anfangsphase der Corona-Pandemie nach ihrer Ansicht und der der Opposition nicht unter regulären Umständen möglich gewesen wäre. Beide Kleinparteien sind zur Wahl auf einer gemeinsamen Liste mit der PiS angetreten und mit ihr in Fraktionsgemeinschaft verbunden, haben aber je fast 20 Abgeordnete. Wenn eine von ihnen von der Fahne geht, hat das Regierungslager im Sejm keine Mehrheit mehr.

Rückkehr Ziobros zur PiS

Es ist nicht das erste Mal, dass Ziobro dem Nestor der polnischen Rechten, Kaczynski, Schwierigkeiten bereitet. Der 1970 in Krakau geborene Ziobro schloss sich nach der Ausbildung zum Staatsanwalt 2001 der gerade gegründeten PiS („Recht und Gerechtigkeit“) an. Damals war Straßenkriminalität noch ein großes Thema, und Ziobro machte sich als einer der PiS-„Sheriffs“ einen Namen. Als die PiS von 2005 bis 2007 das erste Mal regierte, wurde er Justizminister. 2011 verließ Ziobro, damals Europa-Abgeordneter und Stellvertreter des Parteichefs Kaczynski, die PiS im Streit und gründete mit einer Gruppe Getreuer die SP, die noch etwas rechter und populistischer sein wollte als die Mutterpartei.

2015 kam er zurück: Kaczynski bot ihm die Listen- und Fraktionsgemeinschaft an. Seitdem zeichnete Ziobro für die umstrittenen Justizreformen verantwortlich. Als Staatspräsident Andrzej Duda 2017 gegen zwei entsprechende Gesetzentwürfe sein Veto einlegte, attackierte Ziobro ihn: Der zwei Jahre jüngere Duda habe noch zu wenig Erfahrung und müsse entscheiden, ob er „Größe oder Groteske“ anstrebe. Die Wunschgröße Ziobros wäre vermutlich, nach Kaczynski der Bannerträger der Vereinigten Rechten zu werden.

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